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Vortrag von Petra Bahr in der Martinskirche zu Kassel am 5. September 2008
Kennen Sie "Google Earth", dieses fabelhafte Spielzeug für Menschen mit Internetanschluss? Mit Google-Earth hat sich das Computerzeitalter einen Traum des Barock erfüllt. Der Universalphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hätte feuchte Augen bekommen, wäre er bei einem kartographischen Überflug über die Welt dabei gewesen - mit Maus in der Hand und starrem Blick auf den Bildschirm. Einmal aus der Perspektive Gottes die Welt von oben sehen, vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, das können wir Internetnutzer, dank der Kameraspione aus dem All, die uns ununterbrochen fotografieren. Erst erscheint die Erde wie eine Christbaumkugel in der dunklen Nacht der weiten Welt. Dann erscheinen Kontinente, später Länder. Der Betrachter wird geradezu magisch angezogen vom immer genaueren Bild. Und irgendwann kann man die eigene Patentante fast neben ihrem Swimmingpool winken sehen. Oder überprüfen, ob das gebuchte Hotel wirklich in Strandnähe liegt. Oder aber seine Heimatstadt lustvoll von oben anschauen. Beim kartographischen Blick über die Städte des Landes wird schnell klar, wie sehr die Kirchen als strukturgebende und ordnende Kraftzentren funktionieren.
Immer noch, auch nach mehreren Stadtentwicklungsepochen, spinnen sich Straßen und Wege als Stern oder Rasterform von den großen Kirchen zu - oder von ihnen weg - je nach Richtungssinn. Kirchen ordnen die Quartiere und Stadtteile. Und wo sie es nicht mehr tun, sieht man die Bausünden und die unmenschlichen Wohnareale schon von oben. Hier, wo die Zentren fehlen, fransen die Städte in Wohnsiedlungen und Bettenburgen aus, die wie Kirchtürme in den Himmel ragen und doch nichts mehr versprechen. Kein Wunder, dass auch unter den Stadtplanern unserer Zeit der Ruf nach zentrierenden Sakralbauten wieder lauter wird. Durch Bürgerhäuser, Stadtteilzentren und Mehrzwecksäle sind sie offenbar nicht zu ersetzen.
Es besteht kein Zweifel: Kirchen sind bedeutende architektonische Räume, die
häufig die Geschichte einer ganzen Stadt in den Mauern tragen. Umbauten,
Anbauten und Neubauten, Abrisse und Renovierungen legen sich übereinander wie
die Schriften auf einem alten Palimpsest. Epitaphe und Bronzetafeln künden von
traurigen Todesarten. Dort das adelige Fräulein, das im Kindbett stirbt und vom
Vater, dem Patronat eine ewige Erinnerung an der Seite des Kirchenschiffs
erhält. Hier die langen Namenslisten der Erichs, Gustavs und Karls, junge
Männer, die ein paar Jahre früher noch die Namen der Angebeteten in die
Kirchenbank geritzt haben und nun in der Hölle von Verdun ihr Leben ließen.
Kirchen in der Stadt sind auch die Stein gewordene Erinnerung der wechselvollen
Religionsgeschichte. Die Spuren von Reformation und Gegenreformation, von
Umwidmung, Profanierung und Resakralisierung, von Brandschatzung und Neuaufbau
verweisen auf eine unruhige, ja bisweilen gewaltvolle Geschichte. Kirchen mögen
für die Ewigkeit gebaut werden, unveränderlich oder gar unverletzlich waren sie
nie. Bilderstürme und Kriegsbeute haben Lücken in die ausgestellten Kunstschätze
gerissen. In vielen Kirchen werden sie die weißen Flecken noch erkennen. -
Spuren des Verlustes oder der Zerstörung, die bis in die städteplanerische
Abrissphase der 70er Jahre ragen, sind überall sichtbar. Hier hat einmal ein
Bild gehangen. Hier stand eine Apostelbüste. Hier haben sie die Retabel
zerstört, dort die Rückseite des Flügelaltars übermalt, da wiederum den
Hochaltar herausgerissen, hier den zweiten Turm abgetragen oder die Glocken
eingeschmolzen.
Viele Kirchen tragen auch schon eine eigene Umnutzungsgeschichte in ihren Mauern
und manch eine Umnutzungsgeschichte ist schlicht Ausdruck eines großen Mangels.
An Baumaterialien, an Metall, an Raum. Kirchen waren auch als heilige Räume
niemals sakrosankt, sondern als Projektionsflächen und Austragungsorte von
religiösen, ästhetischen und politischen Konflikten brisante Orte. Oft genug
waren sie auch nur Experimentierflächen für wechselnde Geschmäcker oder die
allmähliche Veränderung des religionsästhetischen Stilempfindens. Das ging nicht
ohne Machtspiele und Intrigen ab. Viele Konflikte, die auf der Schwelle der
Stadtkirchen tobten, entpuppten sich im Rückblick als Stellvertreterkonflikte.
Der Pfarrer gegen die Bürgerschaft. Die eine Bürgerschaft gegen die andere. Die
Christengemeinde gegen die Vertreter der weltlichen Hierarchie.
Wer mag heute noch glauben, dass sich die Gemeinde die Ohren zuhielt, als im 19.
Jahrhundert ein Kantor auf die Idee kam, eine Kantate von Johann Sebastian Bach
aufzuführen. Oder dass man sich im Mittelalter heftige und nicht immer nur
theoretische Gefechte darüber lieferte, ob eine Christusfigur schön sein müsse,
damit sie den Glanz des Göttlichen in der modernen Gestalt offenbare, oder
hässlich und nackt, damit die Menschlichkeit Gottes auch vollendet zur
Darstellung komme. Wer will sich heute noch vorstellen, welche Empörung ein
Tafelbild von Conrad von Soest auslösen könnte. Mit tumultartigen
Ausschreitungen auf dem Platz vor der Kirche. Oder mit welcher Brutalität im Ton
im Heidelberg der 80er Jahre gegen die Schreiter-Fenster gekämpft wurde, die der
Kirchenvorstand der Heiliggeistkirche an der Längsseite einsetzen wollte, um der
Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Gotteshaus in einer Stadt der
Wissenschaften steht.
Oft - und Heidelberg ist geradezu ein Paradigma für die lange Geschichte von
Kirchenkunstskandalen - ist nicht die Gemeinde im engeren Sinne der Ort, an dem
der Konflikt sich anheizt. Oft sind es Kräfte von außen, die ihre Vorstellung
von dem, wie die Kirche zu sein hätte, die man nie besucht, die zur
Skandalisierung beitragen. Die Kirche in der Stadt, an der man Tag aus Tag ein
vorbei läuft, möglicherweise, ohne sie überhaupt je zu betreten, lagert Wünsche
und Hoffnungen an, die mit dem, was in diesem Gebäude selbst geschieht, nicht
immer viel zu tun haben. Dieser Effekt, dass Kirchen Hoffnungen und Erwartungen
schüren, ohne dass man selbst über die Schwelle ins Ungewisse tritt, zeigt sich
augenblicklich auch im Osten dieses Landes. Unzählige Fördervereine setzen sich
für den Erhalt ihrer Kirchen ein. Menschen, denen zwei Diktaturen den Zugang zur
christlichen Botschaft gründlich verbaut haben, engagieren sich nun dafür, dass
die Kirche im Dorf bleibt. Ein Dorf, das seine Kirche nicht aufgibt, hat sich
selbst noch nicht aufgegeben, heißt es hier, wo längst Geisterstädte die
Bundesstraßen säumen. Kirchen waren und sind als öffentliche Orte immer auch
Orte, in denen sich die großen gesellschaftlichen Konflikte spiegeln - oft
genug, bevor sie entschieden sind. Da sind zuallererst natürlich die
theologischen Konflikte, etwa der Streit um die Bedeutung des Abendmahls, der
sich sofort im Arrangement des Kirchraums niedergeschlagen hat. Und ja nach
Bekenntniswenden wurde auch im Kirchraum wieder ordentlich umgestellt,
herausgerissen, neu in Auftrag geben und neu möbliert. Wenn es heute manchmal so
scheint, dass unsere Vorfahren ihre würdigen Gemäuer mit Respekt und
Samthandschuhen angefasst hätten, so täuscht das.
Erst im 19. Jahrhundert, als der Historismus allmählich ein Geschichtskonzept
populär macht, das das Heil in der Bewahrung des Alten sucht oder sich
wenigstens um seine Imitation bemüht, wie die neugotischen Kirchen beweisen, die
unser Land durchziehen, steigt auch der Respekt vor dem Hergebrachten. Vorher
war man ganz lässig und ohne Hinterfrage davon überzeugt, dass jede Zeit ihre
Kirchen, ihren Baustil, ihre Kunst und ihre Formen braucht, den alten
Überlieferungen zum Trotz. Im 18. Jahrhundert, im Jahrhundert der emphatischen
Vorwärtsstürmerei, konnte man sich mit dem Hergebrachten nur mühsam arrangieren.
Wer das nicht glauben mag, kann einen anderen Beleg finden: die
Gesangbuchredaktionen, die seit hunderten von Jahren kürzen und entfernen,
modernisieren und korrigieren. Dass diese Neuerungswut im Namen des Fortschritts
und der religiösen Sprachmoden durchaus fatale Auswirkungen haben kann, wissen
wir heute. Heute versuchen wir mit kritischen Editionen, Urtexten auf die Spur
zu kommen. Die Orientierung an historischer Rekonstruktion steht in
eigentümlicher Spannung zur kurrenten Geschichtsvergessenheit - oder ist es nur
die Rede davon? In den letzten Jahren ist die Klage über das mangelnde
Geschichtsbewusstsein der Moderne zur beliebten Pathosformel der Krisenrhetorik
geworden, nach der früher alles besser war. Was den Umgang mit den Kirchen und
ihrem Inventar angeht, so korrigiert die seriöse Geschichtsschreibung diese
These als Vorurteil und Sehnsuchtsbild. Der Denkmalschutz ist ein wichtiges
kulturpolitisches und religionspolitisches Anliegen, mit dem Martin Luther
vermutlich wenig hätte anfangen können. Der bewahrende und konservierende Umgang
mit Sakralbauten, Kunst und anderen Kulturgütern ist eine Erfindung des 19.
Jahrhunderts, in dem Museen heilige Orte rückwärtsbezogener Utopien werden. Doch
Kirchen, auch nicht die, die einen Eintrag in den Listen von Weltkulturerbe und
denkmalgeschützten Bauten gefunden haben, sind eben in evangelischer Perspektive
keine Museen einer vergangenen Christentumskultur oder Ausstellungen ehemaliger
Glaubenskraft. Sie sind Orte, wo Menschen von Heute dem Heute begegnen.
Kirchen sind mehr als Architektur, mehr als Marker in der Stadtlandschaft und
ordnende Fixpunkte für den Städtebau. Sie sind auch mehr als bedeutende
kulturelle Zeugnisse des Christentums. Wer die Bedeutung von Kirchen in der
Stadt in seiner Reichweite erfassen will, darf Kirchen nicht auf ihre
Baugeschichte, auf ihre Religionsgeschichte und ihre Kunst- und Musikgeschichte
reduzieren. Kirchen sind immer auch symbolische Räume. Ihre Atmosphäre schürt
Erwartungen, die den Alltag durchbrechen.
Die Gottesdienste, die manchmal schon seit hunderten von Jahren in einer Kirche
gefeiert wurden, haben sich in den Mauern abgelagert wie feine Partikel, die den
Raum zum Schwingen bringen. All die Gebete, verzweifelte und fröhliche, das
Schweigen und das Reden ganzer Generationen, vollmächtige und belanglose
Predigten, große Musik und kleine Hörmoden sind nicht einfach so vergangen. Sie
strahlen ab. Von Vitruv ist ein schöner Dialog zwischen einem Baumeister und
seinem Schüler überliefert: "Ich möchte, dass mein Tempel die Menschen bewege" -
sagt der Baumeister. "Und willst Du es mir gleichtun, dann studiere die Räume
deiner schönen Stadt. Erkenne ihren Wert für die Menschen und suche das
Geheimnis ihrer Wirksamkeit zu erkunden. Viele Häuser bleiben stumm; einige
werden Dich ansprechen und wenige werden singen...".
Stadtkirchen sind Gebäude, die singen - auch wenn die protestantische Theologie
des sakralen Raumes erst lange nach Vitruv entstanden ist. Auf den ersten Blick
ist das Bild natürlich schief. Ein Gebäude kann ja schließlich keine Töne von
sich geben. Obwohl ein ordentliches Kirchgeläut die Umgebung schon mächtig in
Schwingung versetzen kann. Doch wer je die Schwelle über ein altes Kirchenportal
ins geheimnisvolle Innere getan hat, der findet das Bild ganz einleuchtend. Es
ist, als beträte man einen weiten Resonanzraum. Singende Gebäude, das meint zu
allererst: dieses Gebäude ist nicht verstummt im Laufe der Jahrhunderte, auch
wenn es alt und bisweilen ziemlich gebrechlich ist. Es klingt. Es hat eine
eigene Atmosphäre, die nicht muffig, sondern höchstens fremd riecht. Ein
Gebäude, das singt, lebt ganz in der Gegenwart, so wie alte Musik auch heute
noch Menschen bewegt. Orgeln und Chöre, der Gemeindegesang und die Stimme der
Liturgen bringen den sakralen Raum allererst zum Schwingen und verbinden so die
Klänge der Vergangenheit mit dem Sound der Gegenwart. Wie ein Schallraum
versammelt ein evangelischer Sakralbau die Stimmen derer, die den Ort mit
religiösen oder ganz weltlichen Erfahrungen erfüllt haben und verbindet sie in
einem Generationenvertrag mit denen, die heute dort singen, beten, schweigen und
reden. Sie, die Kirche, zeigt sich aber auch resonanzoffen für die Umgebung, in
der sie steht. Kirche in der Stadt - das ist kein isoliertes Areal sondern ein
Bezugsort, in dem sich die architektonischen und geistigen Nachbarschaften
brechen. Ein Gebäude, das singt, ist kein Museum und keine Ausstellungshalle für
vergangene Glaubenskraft, auch wenn die Spuren der Vergangenheit immer wieder
beeindrucken - die Einbildungskraft und der künstlerische Sinn derer, die vor
uns ihren Glauben gestaltet haben. Sakralbauten sind Orte, die fremd bleiben in
der Welt der Tiefgaragen, Banken und Warenhäuser, weil sie von einem Versprechen
zeugen, das den Blick weitet. Kirchen sind Steinzeichen des Unsichtbaren im
Sichtbaren und überschreiten deshalb immer die Bedeutung, die Sie für die
Topographie einer Stadt haben. In den immergleichen deutschen Innenstädten mit
den auswechselbaren Ladenpassagen und Cityanlagen sind sie oft wie eine schiefe
Nase im Gesicht der Stadt, durch die diese allererst einen Charakter erhält. Für
die symbolischen Ablagerungen, die den alten Gemäuern Bedeutsamkeit verleihen,
die weit über das materiell Fassbare hinausgehen, hat der französische Philosoph
Michel Foucault eine hilfreiche Kategorie gefunden. In einem sehr dichten
Radioessay unterscheidet er zwischen der Topographie, die unser Leben allerorten
bestimmt, in dem sie durch Routen, Plätze, Straßen und Orte ein Ordnungs- und
Orientierungsmuster zur Verfügung stellt, ohne das wir nicht leben könnten, und
den Heterotopien. Heterotopien sind Orte, die, anders als Utopien, einen
wirklichen, messbaren, physikalischen Platz in der Welt einnehmen, und doch viel
mehr als das sind, was sie auf den ersten Blick verkörpern. Heterotopien sind
Orte, sagt Foucault, die "einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte sich
befindenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem
alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt. Wahrscheinlich schneidet jede
menschliche Zivilsation aus dem Raum, den sie besetzt hält und in dem sie
wirklich lebt und arbeitet, utopische Orte aus und aus der Zeit, in der sie ihre
Aktivitäten entwickelt, chronische Augenblicke. Wir leben nicht in einem leeren,
neutralen Raum. (...) Es gibt Durchgangszonen wie Straßen, Eisenbahnzüge oder
Untergrundbahnen. Es gibt offene Ruheplätze wie Cafés, Kinos, Strände oder
Hotels. Und es gibt geschlossene Bereiche der Ruhe und des Zuhauses. Unter all
diesen verschiedenen Orten gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als
die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise
sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen wollen. Es sind
gleichsam Gegenräume." Und nun kommt Michel Foucault zu einer, wie ich finde,
hinreißenden Erklärung, die noch einmal genauer fasst, was er meint, wenn er von
Gegenorten redet. "Die Kinder kennen solche Utopien. Das ist natürlich der
Garten. Das ist der Dachboden oder eher noch das Indianerzelt auf dem Dachboden.
Und das ist - am Donnerstag - das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt
man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist
auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil
man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist
wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird
man bestraft werden." Wer die Philosophie Michel Foucaults kennt, wird in diesem
Zitat mit all den regressiven Träumen die ganze Philosophie in nuce finden. Nur
lasse man sich nicht täuschen. Foucault sieht das Heterotopische nicht in der
Regression. Die Kinderseele ist ihm nicht die Rettung vor der erwachsen
gewordenen Moderne. Es geht ihm hier um die Mehrfachbesetzung eines Ortes. Dafür
ist das Elternbett ein gutes Beispiel.
Foucault präzisiert weiter: Gegenräume sind durch den Umgang mit zeitlichen
Brüchen gekennzeichnet. An ihnen hängt ein anderes Zeitverständnis. In der Tat,
ohne das Kirchenjahr in all seinen bedeutungsvollen Ausfaltungen wären die
Kirchen nicht, was sie bis heute sind, auch wenn die meisten Städter sich
halbwegs souverän nur noch auf ihr Weihnachtschristentum beziehen können.
Kirchen in der Stadt halten diesen anderen Zeitensinn offen. Heterotopien
verbinden sich nach Foucault mit einem Festzyklus. Sie fordern das überschreiten
einer Schwelle und eröffnen einen Raum, in der noch der Vertrauteste fremd
bleibt, weil das Fremde nicht als etwas zu überwindendes gilt. Es hat vielmehr
buchstäblich Methode. In der Tat: Kirchen eröffnen einen Weg zum Heiligen, das
auch als menschenzugewandte Botschaft fremd bleibt - gegenüber seinem Verbrauch
unter Nützlichkeitserwägungen, ja gegenüber seiner Fasslichkeit als solcher. Und
je näher es uns kommt, desto fremder wird es. Gegenräume, so Foucault, stellen
andere Räume in Frage. Sie befragen nicht nur deren Funktion, sondern ihren Sinn
für den Menschen. Als Gegenräume sind sie deshalb nicht einfach nur Räume des
Kontrastes und der abgeschlossenen Reinheit vor der Welt - das wäre ja auch ganz
und gar unevangelisch. Gegenräume können sie nur sein, wenn sie mit ihrem Umfeld
kommunizieren. Das Gegen braucht ein Gegenüber. Es lohnt sich meines Erachtens,
neuere Ekklesiologien und kirchenreformerische Überlegungen zu einer Kirche der
Orte jenseits der Parochie einmal vor der Folie des Foucaultschen Modells zu
untersuchen. Dann wäre die Leitfrage weniger an Strukturmodellen denn an
inhaltlichen Orientierungen entlang zu stellen: wie kann eine Stadtkirche, ob
mit oder ohne Ortsgemeinde, heterotopischen Charakter behalten? In den notae
ecclesiae, also in den Zeichen, die einen evangelischen Ort im Vollsinn zur
Kirche machen, liegt meines Erachtens, recht verstanden, das Heterotopische
schon verborgen. Ich kann mir keine Stadtkirche vorstellen, weder als City- noch
als Kultur- noch als Wegkirche, in der keine Gottesdienste gefeiert werden. Doch
braucht es andere Heterotopieverstärker, damit wir selbst den heterotopischen
Charakter neu verstehen. Kunst ist ein Heterotopieverstärker. Bildende Kunst,
wenn sie gut ist, bringt den heterotopischen Charakter der Kirche in der Stadt
zum Leuchten und zum Klingen. Damit riskieren natürlich die, denen ihr Kirchraum
lieb und teuer ist, bisweilen eine Brüskierung. Ist die Brüskierung mit einer
künstlerischen Botschaft verbunden, die mehr ist als der Tabubruch um des
Tabubruchs und des medialen Effektes willen, dann gehört der Prozess des
"Wiederfremdwerdens" des Vertrauten geradezu zu den notae ecclesiae, weil die
Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft ohne Irritation und geistliche
Herausforderung nicht auskommt. Wer die Predigt auf die Beglückung des frommen
Gefühls reduziert, hat das Heterotopische des Evangeliums schon verraten. Das
muss übrigens nicht heißen, das der Gegenraum immer anstrengend ist. Für
Foucault sind auch das Gelächter und der Humor, die wiedergewonnene Leichtigkeit
in allem Schweren ein Moment des Heterotopischen, genau wie das Fest eine
Auszeit von den üblichen Zeitzwängen ist. Und seien wir ehrlich, tief berühren
uns nur die Dinge, die uns überraschen und mit denen wir nicht gerechnet haben.
Hier in der Karlskirche ist im Augenblick ein Kunstwerk ausgestellt, das wie
kein anderes zum Heterotopieverstärker für dieses Gotteshaus wird. In den
sinnlichen Paradoxien der Installation von Ives Netzhammer bricht sich auch der
die Installation umgebende Raum. Er wird in den Spiegeln nicht nur zerstört,
sondern auch aufs Schönste neu zusammengesetzt. Spielerisch und mit der Freiheit
der künstlerischen Form, die keinen Sinn machen muss, stellt sich das
Heterotopische neu ein, auf vielen Ebenen: in den Bildgeschichten, die ohne
Logik sind, aber auch ohne tragischen Ausgang. In der Bewegung, die ziellos
bleiben darf. In den Arabesken und Figuren, die nur so tun, als erzeugten sie
ein Bild. Sogar die Himmelskörper kommen nicht von oben herab. Die Installation
funktioniert wie eine künstlerische Heterotopie, die auch die religiös-sakrale
Heterotopie des Kirchraums neu zu entdecken hilft, ja, ihn auf geheimnisvolle
Weise auch ganz neu weckt. Deshalb ist das Kunstwerk von Netzmacher die
vielleicht sinnfälligste Beglaubigung von Foucault. Sogar Kinder haben ihren
Spaß daran. Wer weiß, was sie noch für Momente entdecken, die uns verborgen
bleiben. es Anschlusszitats, mit dem Foucault seine Rede beschließt, gilt
deshalb:
"Gesellschaften, deren Kirchen keine Heterotopien mehr sind, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, in dem sie spielen können. Dann versiegen ihre Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle glanzvoller Freibeuter die Polizei". In der Sprache Martin Luthers gesagt: wenn die Kirchen keine Orte der fides creatrix, keine Räume für die Entfaltung der Kreativität des Glaubens in der Gegenwart mehr sind, dann treten an die Stelle der Glaubensabenteurer, die sich fröhlich und getragen dem ungesicherten Leben zuwenden, die Wächter von Kirchenanstand und Rechtgläubigkeit ohne persönlichen Lebensgewinn und Orientierung.
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